Historischer Exkurs Abwasserableitung und -behandlung
Die ältesten bekannten Kanalisationen stammen aus dem Euphrattal und dem Tal des Indus im heutigen Pakistan. Babylon verfügte bereits über ein gut ausgebautes Kanalsystem. Ebenfalls in Babylon wurden unter König Hammurabi (1728 bis 1686 v. Chr.) die ersten Wassergesetze verfasst. Die ältesten Kanäle in Jerusalem stammen aus der Zeit von König David (ca. 1055 v. Chr.).
Auch im alten Griechenland gab es bereits große Kanalisationsanlagen wie z.B. in Milet, Olympia und Athen. Bei den Athe nern kannte man bereits Abwasserverrieselungsanlagen auf Rieselfeldern als eine erste Art der Abwasserreinigung.
Die Römer leiteten mit ihren Aquädukten (Wasserleitungen) Trinkwasser über weite Entfernungen in die Städte. Sie hatten aber auch bereits funktionierende Abwasserableitungssysteme. Bei der verwendeten Schwemmkanalisation handelte es sich meist um offene Gerinne. Wegen des hohen Bauaufwandes waren Abwasserrohre selten.
Die bekannteste römische Kanalisation ist die Cloaca-Maxima in Rom, die zum Teil heute noch existiert. Der Rest einer unterirdischen römischen Abwasserkanalisation ist in der Kölner Altstadt noch heute begehbar. Im Mittelalter ging das Wissen um die hygienische Bedeutung einer geordneten Abwasser entsorgung weitestgehend verloren. Hier dienten zahlreiche Stadtgräben der Wasserver- und -entsorgung.
Im Mittelalter benutzten die Menschen den »Donnerbalken«. In mittelalterlichen Städten oft anzutreffen waren so genannte Erkerlatrinen und öffentliche Abtritte auf Brücken. Die vorhandenen Straßen waren eng und ungepflastert. Abfälle und Kot versetzten sie in einen schlimmen Zustand. Da das direkte Betreten der Straßen unter diesen Umständen nicht möglich war, benutzte man zum Laufen Springsteine und Holzzapfen. Die Nachttopfentleerung erfolgte direkt aus dem Fenster auf die Straße. Zur damaligen Zeit verwendeten die Bürger häufig Bach- und Flusswasser in ihren Küchen. Da die Wasserläufe gleichzeitig die Abfälle aufnahmen, förderte dies das Auftreten von Krankheiten. Cholera und Pest forderten das Leben von Tausenden von Menschen.
Kanalisation und Kläranlage in Marburg
Auszugsweise und verkürzt aus dem »Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten der Stadt Marburg für die Zeit vom 1. April 1893 bis 31. März 1898«
Allgemein
Im Mai 1893 berichtete der Oberbürgermeister Ludwig Schüler an die Regierung, dass die Stadt eine Trinkwas-serleitung mit Hochreservoir auf dem Schlossberg errichtet hat. Die Bevölkerung könne nun mit 120-130 Liter Trink-wasser/Kopf versorgt werden. Hiermit war die erste Bedin-gung einer »Schwemmkanalisation« erfüllt.
Das Kanalisationsprojekt war durch Stadtbaurat Lindley in Frankfurt gefertigt. Es sah die Einführung (Einleitung) der gesamten Abwässer, die Fäkalien eingeschlossen in die Lahn vor.
Nach den in Preußen bestehenden Grundsätzen für die Ein – führung von Fäkalien in Gewässer, war eine chemische Rei – nigung oder Filtration vorzusehen. Darauf wurde Prof. Fränkel beauftragt zu untersuchen, in welchem Maße die Lahn im Stande sei, die aus der Stadt zugeführten Schmutz- stoffe zum Verschwinden zu bringen.
Das auf Grund umfangreicher Untersuchungen der Profes-soren Fränkel und Dietrich erstattete Gutachten ergab, »dass gegen eine widerrufliche Genehmigung der Einführung al – ler städtischen Abwässer, einschließlich Fäkalien hygienische Be denken nicht geltend zu machen seien, wenn die Stadt die augen fälligen Verunreinigungen mechanisch entfernen und den Schlamm in Sedimentationsbecken sich absetzen lasse«.
Die chemische Reinigung hätte der Stadt große Betriebskos-ten auferlegt, eine Verrieselungsanlage war bei den hiesi-gen Bodenverhältnissen ausgeschlossen.
Die zu lösenden Aufgaben der Stadt mit einer von Mai 1885 bis Mai 1895 von 12.614 auf 15.500 gewachsenen Ein-wohnerzahl würde eine erhebliche finanzielle Kraft in An-spruch nehmen. Man ging davon aus, dass die Einführung der Abfallstoffe einer gesunden einwandfreien Stadt in die Flüsse lange nicht die Gefahren in sich birgt, welche eine nicht kanalisierte Stadt mit einer Anzahl von Seuchenher-den sonst dem Unterlieger bringt.
Außerdem war man der Meinung: »Die viel besprochene Frage der Verunreinigung deutscher Flüsse und Ströme durch die Städte ist häufig unnötig aufgebauscht worden.« Das man hier irrte, zeigten die nächsten Jahre und Jahr-zehnte.
Kanalisation
Bei der Erstellung der Kanalisation hatte Lindley das so-genannte kombinierte System d. h. die Abführung des Schmutz- und Meteorwassers (Regenwassers) in denselben Röhren vorgesehen. In Teilbereichen wie z. Bsp. im Ketz-erbachgebiet wurde umprojektiert und das Meteorwasser in den Ketzerbach eingeleitet, da man Einsprüche der medizi-nischen Fakultät gegen Notauslässe des kombinierten Sys-tems in den Ketzerbach berücksichtigte.
Das auch in Marburg in Teilbereichen wesentlich ältere Kanäle vorhanden waren, ergab sich beim Bau der neuen Kanalisation. »Im gesundheitlichen Interesse musste eine unvorhergesehene Anzahl von zum Teil recht großen und alten Kanälen aus den Straßen entfernt werden, welche im Laufe der Jahrhunderte in der Stadt angelegt wurden.«hnte.
Kläranlage
Aufgrund des Berichtes der Sielbaukommission entsandte der Stadtrat eine Deputation nach Wiesbaden. Dort wurde ein vom Ingenieur H. Riensch aufgestellter Rechen besichtigt, welcher durch maschinellen Betrieb die Abwässer von groben Verunreinigungen reinigte.
Die Anlage gefiel und der Ingenieur Riensch wurde aufgefordert, einen Entwurf für die Reinigung in Marburg einzu-reichen. Vorgesehen war ein Grobrechen, ein Mittelrechen und ein Feinsieb mit 1,5mm weiten Öffnungen. Zwischen Grob- und Mittelrechen war ein Sandfang mit Baggerwerk angeordnet. Nach der Vorreinigung durchfließen die Abwässer zwei Sedimentationsbecken von 20m Länge, 3,00m Breite und 1,50m Tiefe mit einer Geschwindigkeit von 10mm/Sekun de. Über Pumpvorrichtungen wurde der Schlamm in außerhalb befindliche Schlammbecken gepumpt. Die Schmutzwassermenge betrug 50 l /Sekunde. Am 28. August 1896 wurde der Bau der Kläranlage begonnen und am 10. Juni 1897 war die Inbetriebnahme. Die Bau kosten betrugen 90.000 Mark.
Der »Sandfang« lieferte 150 m3 Schlamm im Jahr. Aus den Sedimentationsbecken wurden im Jahr rund 600m³ Schlamm gefördert und die Rechenanlage lieferte etwa 120m³ »reinen Düngstoff«. Der Schlamm und die von den Rechen gelieferten Stoffe fanden damals willige Abnehmer. Den größten Teil konnte die Stadt selbst für eigene Ökonomie und Gartenwirtschaft gut gebrauchen. Die Einnahmen für verkauften Schlamm beliefen sich vom 1. Ok tober 1897 bis zum 1. Oktober 1898 auf rund 150 Mark.
Heute kostet die Entsorgung und Verwertung der anfallenden Stoffe (Sandfanggut, Klärschlamm und Rechengut) mehrere 100.000 Euro im Jahr.
Die Erfolge der Abwasserreinigung und -ableitung wurden seinerzeit an den Todesfällen pro 1.000 Einwohner und Jahr gemessen. Diese sanken von 22,2 im Jahr 1893 über 12,9 in 1895 auf 10,2 im Jahr 1898. In der Kölnischen Zeitung von 1898 war eine Vergleichstabelle für den Monat Oktober aufgeführt, die Marburg als zur Zeit wohl gesündeste Stadt im Reich und auch im Vergleich mit ausländischen Metropolen ausweist.
Die ursprünglichen rund 20 Kilometer Kanalnetz sind mittlerweile auf weit über 400 Kilometer angewachsen.